Mein schönstes Muttertagserlebnis hatte ich, als ich selbst bereits Mutter war. Es war im Jahr 1994, als wir mit unserem Grundschulkind aus beruflichen Gründen des damaligen Familienernährers von einer Großstadt in Nordrhein-Westfalen aufs Land zogen. Nicht gerade aufs Dorf, sondern in ein kleines Städtchen in mit Grundschule, Gymnasium, Kirche, Rathaus, Ärzten, Apotheke und ein paar Läden. Was Familie halt so alles zum alltäglichen Leben braucht.
Meinen Anspruch, mein Grundschulkind nicht zu jeder Uhrzeit zwischen 8:00 und 13:00 plötzlich wieder vor der Haustür stehen zu haben, hatte ich bereits in den ersten Wochen unseres neuen Lebens aufgegeben. Die Anfrage nach einer verlässlichen Grundschule von 8:00 bis 13:00 Uhr wurde damals noch mit Erschrecken in den Augen abgelehnt. Von Politik, Schule, Verwaltung, Kirche und anderen Müttern. Die armen Kinder, die mit traurigen Augen ihre Klassenkamerad*innen vergnügt nach Hause abziehen sehen und selbst einsam und verlassen in ihrer Schule darauf warten, dass die Rabenmutter auf dem Selbstverwirklichungstrip endlich wieder zu Hause ist. Der erste Teil dieses Satzes aus dem Munde einer Lehrerin, der zweite ab Rabenmutter, meine damals unausgesprochene Zusammenfassung der gesellschaftlichen Einstellung. Mütter sollten sich zu Hause ganz in den Dienst ihres Nachwuchses (und ihres Partners, aber das ist jetzt eine andere Geschichte) stellen und keinen eigenen Freiheitsraum jenseits ihrer Mutterschaft haben.
Versuch gescheitert, ein Leben außerhalb des Mutterdaseins auf dem Lande zu führen. Bis zum Ende der Grundschulzeit gebunden an ein Verständnis der Frau als Mutter und zwar immer und jederzeit und vollständig und … Kein Platz für Gleichberechtigung. „Außerdem brauch Frau sich ja kein Kind anzuschaffen, wenn Frau unbedingt Arbeiten will!“Dann stand 1995 zum ersten Mal der Muttertag in der neuen Heimat vor der Tür. Die Grundschule arbeitete bereits fleißig daraufhin. Schon seit Wochen gab es geheimnisvolle Andeutungen über das Geschenk, dass selbstverständlich in der Schule gefertigt werden sollte. Die Lehrerinnen, alle Überzeugungstäterinnen, orientierten ihren Lehrplan selbstverständlich an diesem, in Deutschland so bedeutungsvollen, gesellschaftlich hochstehenden und von allen geachteten Feiertag!
Einige Wochen vorher brachte das Grundschulkind also den Zettel mit. Selbstverständlich muss eine Mutter in die Anfertigung des Muttertagsgeschenks eingebunden werden, damit sie nur ja nie die ihr von der Gesellschaft zugewiesene Rolle vergießt.
Das ultimative Muttertagsgeschenk! In der Klasse unseres Grundschulkindes sollte es für alle Mütter unvergesslich bleiben. Es war wirklich etwas ganz Besonderes, was die Lehrerin sich ausdachte! Ein Knüpfbild – die Eule – für die Mutter! Grundschulkinder sollen nämlich neben den Fertigkeiten Staunen, Lernen, Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen und anderen unbedingt knüpfen lernen, erfuhren die erstaunten Eltern. Der Zettel führte auf, welche Materialien zur Anfertigung des Muttertaggeschenks, einheitlich für alle, unbedingt erforderlich waren. Mit bedingungsloser, äußerst knapper Fristsetzung. Schließlich sollte das Geschenk ja an unserem Ehrentag fertig sein.
Was tun? Kind und Mutter zogen nachmittags im kleinen Städtchen mit ein paar Läden los, um alles zu besorgen. Und wir trafen sie alle, die Mütter aus der Klasse. Nachdem jede Mutter alle Läden abgeklappert hatte, stand fest, auf ein solches grandioses Muttertagsgeschenk war diese kleine Stadt einfach nicht vorbereitet. Wir wurden alle in die nächstgrößere Stadt verwiesen. Schließlich hatten wir eine Frist einzuhalten. Also setzten an diesem Tag viele Mütter ihre Grundschulkinder und Geschwisterkinder ins Auto und die Karawane machte sich auf den Weg in die nächstgrößere Stadt. Dort angekommen, begann der Kampf um die knappen Ressourcen. Knüpfmaterialien und –Handwerkszeuge wachsen schließlich nicht auf Bäumen und Handarbeitsgeschäfte sind rar gesät. Wohl den Müttern, die sich bereits seit Jahren in Handarbeiten übten. Jetzt endlich zahlte es sich aus! Im Kampf um die Materialien waren sie eindeutig im Vorteil.
Am Ende dieses Tages lagen erschöpfte Kinder in ihren Betten, die Schultaschen gepackt mit allem, was das Herz der Lehrerin begehrte, nicht minder erschöpfte Frauen saßen auf ihrem heimatlichen Sofas und erholten sich von einer Odyssee durch den Einzelhandel in verschiedenen Orten.
Geschafft, dachten wir. Oh, wie hatten wir Mütter uns getäuscht. Ein Muttertagsgeschenk will erarbeitet werden. Das fordert die ganze Kraft einer Mutter. Bis zum Muttertag waren sie damit beschäftigt, lange Nachmittage ihre verzweifelten Kinder dazu zu bringen, ihnen ein Knüpfbild zu erstellen. Kinder mussten seelisch aufgerichtet werden. Die Angst, am Muttertag ohne das Geschenk dazustehen, lag schwer auf den Kinderseelen. Viele Mütter griffen aus Verzweiflung zur Selbsthilfe und knüpften ihr ultimatives Muttertagsgeschenk schließlich selbst.
Wir haben es geschafft! Am Tag des Tages – dem Muttertag – erhielt jede Mutter der Klasse das geknüpfte Bild einer braunen Eule.
Das Grundschulkind und ich einigten uns darauf, dass dieses Muttertagsgeschenk als Mahnung erhalten bleiben sollte: Nie wieder!